Dienstag, 16. April 2013

“Die Piratenpartei aus organisationssoziologischer Perspektive”, oder auch nicht?


Lange schon drücke ich mich davor meine verschiedenen Texte zur Piratenpartei, die Erklärungen was dieses „Politik“ eigentlich ist und was ich die letzten Jahre so erfahren habe aufschreiben. Ich schreibe lange Mails, gebe stundenlange Erklärungen oder kommentiere mehrere Seiten lang Artikel auf sozialen Plattformen. Jetzt sollen es eigenständige Texte sein, die ich endlich auch loslassen, also veröffentlichen will und nicht als weitere unzählige Entwürfe in einem Ordner sammeln möchte.
Der Besuch einer organisationssoziologischen Lehrveranstaltung über die Piratenpartei soll mir helfen meine Gedanken niederzuschreiben. Jede Woche möchte ich einen Text zu den Themen des Seminars veröffentlichen. Verschiedene Themen, wie Parteiprogramm, Protestkultur, Genderfragen, Andere Parteien oder Liquid Democracy stehen im Terminplan der Veranstaltung.
Während der Veranstaltung macht mich gleich einer der ersten Kommentare der Dozentin stutzig: „Man hat die Schwierigkeiten der Piratenpartei auf dem letzten Parteitag gesehen, zu entscheiden, was ein Programm sein soll.“ Ich frage mich einmal wieder, was genau ich an Medienberichterstattung alles verpasse und welche Informationen Bürger aus der Presse über eine Veranstaltung haben, die ich als Teilnehmer der Veranstaltung nicht habe. Ich war da. Welche Schwierigkeiten sind gemeint? Was genau wurde von den Medien angesprochen? Die Sichtweise der Dozentin und Seminarteilnehmer wird von externen Presseberichten und deren Darstellung geprägt. Es werden weitere Kommentare und Fragen von Teilnehmern formuliert und mir wird eine besondere Herausforderung dieser Veranstaltung klar. Die Herausforderung ist nicht zuviel während des Seminars zu sagen und zuzuhören welche Vorstellungen und Missverständnisse, oder auch Klischees es über Parteien, Politiker und die Piraten gibt. Auch wenn ich mir schwer das Kichern, böse Kommentare, das Fazialpalmieren oder Richtigstellungen verkneifen kann.
Während der Veranstaltung behauptet die Dozentin, dass ein Bundesvorstandsmitglied, welches in der Bundeswehrverwaltung arbeitet den Zielen der Partei widerspricht. Ich verstehe diese Aussage nicht, denn warum sollte das der Fall sein? Stand irgendetwas in der Presse, weswegen sie das glaubt?
Mir wird klar, dass ich nicht wie die Soziologiestudenten in der Veranstaltung mitarbeiten kann. Soziologen beschreiben ihre Beobachtungen der Gesellschaft. Ich kann nicht von außen die Piratenpartei beschreiben, dafür bin ich seit Jahren zu sehr involviert. Mir wird aber auch klar, dass die Soziologiestudenten nicht die Piratenpartei beschreiben, sondern Berichte von Externen über die Piratenpartei als Quellen heranziehen. Ihre Sichtweise ist von den vielen Missverständnissen und Falschdarstellungen in der Presse geprägt. Für die Veranstaltungsteilnehmer ist klar, dass Streitigkeiten innerhalb der Partei durch Machtstreben verursacht werden. Dieses ist für Soziologen der Zweck von Parteien. In der Pflichtlektüre für den Kurs (Wiesendahl, 2006) steht folgendes zum Zweck einer Partei geschrieben: „Die Essenz dessen, was die Parteien antreibt und was im Mittelpunkt ihrer Zielsetzung steht, ist das Machtstreben. Es zielt selbst darauf, ihren Vertretern erfolgreich Zugang zu den Schaltstellen staatlicher Macht in Parlament und Regierung zu verschaffen.“ Nur, ich glaube nicht, dass dieser Zweck den meisten Piraten klar ist. Sie verstehen nicht einmal die Definition von Macht und auch ich weiß häufig nicht, wo denn die angebliche Macht von Politikern angesiedelt sein soll. Darum ging es mir und vielen Anderen aus der Anfangszeit nicht und ich glaube einem Großteil der Piraten geht es genauso. Ja, wir wollten unseren Themen mehr Einfluß verleihen, man kann dieses als Machtstreben verstehen, aber diese Definition von Macht haben viele Piraten wohl nie gehört. Diesem Thema muss ich wohl auch einen langen Artikel widmen.
Es wird im Kurs von Führungsstreitigkeiten gesprochen und nach der Führungselite der Piraten gefragt. Für Piraten wirkt das seltsam, weil wir doch Wert darauf legen keine Chefabteilung zu haben und jeder Pirat gleichberechtigt mitbestimmen soll. Unser Vorstand soll Macht haben? Vielleicht in der Presse? Indem die Journalisten Vorstandsmitglieder durch Interviews zu Wort kommen lassen?
Monatelang habe ich mich gewundert, warum denn Meinungsverschiedenheiten im Vorstand für die Partei so wichtig sein sollen, oder warum sie irgendeine negative Auswirkung auf die Partei haben sollten. Vorstände haben doch nicht mehr in der Piratenpartei zu sagen als jeder andere Pirat. Meinungsverschiedenheiten sind normal. Aber auch wenn diese für die Partei unwichtig sind, bekommen angeblich wichtige Streitigkeiten durch die Presse mehr und mehr Bedeutung. Auf einmal ist es wichtig, dass sich der Vorstand nicht streitet, weil die Bevölkerung glaubt, dass der Vorstand wichtig für die Parteiarbeit ist und sich diese daher von uns abwendet. Die Presse sagt, dass etwas wichtig ist und deshalb ist es für die Partei wichtig, weil sonst die Wählerzustimmung sinkt. Auch wenn für die Piratenpartei unwichtig ist wie jemand gekleidet ist, wenn die Presse von der unmöglichen Bekleidung der Piraten berichtet, dann ist das ein wichtiges Thema und die Piraten sollen sich zugunsten der Wählerzustimmung anpassen. Dieses betrifft auch jedes andere Thema, welches Journalisten aufgrund ihrer Erfahrungen mit anderen Parteien für wichtig halten. „Wie? Ihr habt dazu nichts im Programm?“ Man bemerke, dass genau dieses Thema dann wiederholt nachgefragt wird, bis es im Programm steht. Wir haben innerhalb der Partei häufig angemerkt, dass sich einige Piraten von der Presse hetzen lassen und sich vorgeben lassen, was denn angeblich wichtig ist. Auch wenn wir mehr zu einem Thema als andere Parteien im Programm stehen haben, dann ist das egal, weil nur das angeblich nicht existente Parteiprogramm der Piraten zählt. Nach anderen Parteiprogrammen fragt keiner, die will auch keiner sehen. Hektisch wird versucht zu jedem Detail einen Programmantrag zu stellen. Als würden Programme nicht bei allen Parteien auf einem Parteitag beschlossen. Ungeachtet der Tatsache, dass Programme niemals vollständig und auf die aktuellen politischen Ereignisse in Parlamenten angepasst sind. Wenn die Presse sagt, dass wir zuwenig Frauen haben und angeblich frauenfeindlich sind, dann wird ungeachtet der Realität Frauenförderung betrieben und auch die weiblichen Piraten sind irritiert, weil doch andere Parteien viel weniger Frauenanteile haben und wir doch ursprünglich das Geschlecht nicht betonen wollten.
Ein gute Frage im Kurs war, ob wir Piraten einer bestimmten Subkultur entstammen und mir fiel auf, dass die Studenten vielleicht eher Blogs von Piraten und Netzaktivisten oder deren Websites lesen sollten als oberflächliche Artikel in den Printmedien. Ein Journalist, der vormittags eine Stunde Zeit hatte einen Parteitag zu besuchen und über die gesamte Veranstaltung schreibt, hat sicherlich eine andere Sichtweise zur Veranstaltung als die Piraten, die das ganze Wochenende anwesend waren. Ich finde es gefährlich, dass Studenten die Piratenpartei anhand von oberflächlicher, häufig uninformierter Berichterstattung über diese beschreiben wollen. Ich frage mich, ob irgendwann noch etwas von den Ursprüngen der Partei in den Beschreibungen über diese übrig ist, weil wir mit den Massstäben und im Vergleich mit den alten Parteien betrachtet werden. Das Seminar ist auf jeden Fall für eines gut, ich komme so an Informationen über eine ganze Menge Missverständnisse, die mir zuvor nicht klar waren.