Freitag, 5. Oktober 2012

1 Jahr FdP (Fraktion der Piraten)


Neben mir steht eine gelb-blaue Kaffeetasse mit dem Aufdruck "FdP - Fraktion der Piratenpartei. Ein Scherz, der sich auf Twitter entwickelt hat und in Protokollen, Artikeln oder auch auf Kaffeetassen aufgegriffen wurde. In allen 12 Bezirken haben die Piraten die FDP verdrängt und häufig deren Büros übernommen. Ein Jahr Piratenfraktion - es wird Zeit zurückzublicken. 
Rückblickend habe ich über ein Jahr den Piraten geopfert. Ich habe Vollzeit die Piratenpartei im Wahlkampf begleitet, mich lange vor der Kandidatur durch Teilnahme an Ausschusssitzungen und Parlamentssitzungen an die 5 Jahre in der BVV vorbereitet. Zwischenzeitlich hatte ich kaum Privatleben außerhalb der Piraten und meine berufliche Zukunft rückte immer weiter in den Hintergrund. Ich bin überzeugter Pirat in Vollzeit -  aber ich plane mich wieder mehr um mein eigenes Leben zu kümmern - seit Monaten und ich schaffe es nicht.Zu Beginn habe ich als inaktives Mitglied die Piratengruppen in meiner Nähe heimlich beobachtet. Nach und nach wurden in meiner Umgebung immer mehr Freunde und Bekannte Mitglieder der Piratenpartei. Nicht meine Umgebung hatte sich verändert - seit Beginn meines ersten Studiums 2001 gab es ein Aufeinandertreffen von Aktivisten verschiedener Initiativen, Vergleiche internationaler Berichterstattung und zahlreiche politische Diskussionen in meiner Umgebung und es wurden mehr. Parteien begegne ich noch heute mit Skepsis - nur hatten immer mehr Leute in meiner Umgebung das Gefühl, dass da irgendwas in der Politik falsch läuft. Der Bürger fühlt sich nicht mehr vertreten. Die Frage existierte, ob diese Volksvertreter eigentlich noch für die Interessen ihrer Bürger stehen. Wie wird mit den Bürgerrechten und Gesetzen umgegangen, warum wird gerade direkt vor Ort - bei den öffentlichen Aufgaben für den Bürger weiter gekürzt, warum werden Bürger mehr und mehr überwacht? Unverständnis über die Vorgänge in den Parlamenten und Ausschüssen begleitete uns. Entscheidungen, die im Namen des Bürgers getroffen werden, sollten nachvollziehbar sein. Wir wollten wissen was dort falsch läuft. "Wir sind die mit den Fragen!" 

Wir wollten dem Bürger die Politik wieder näherbringen. Erklären was dort passiert und mehr Leute gewinnen, sich einzubringen. Demokratie funktioniert nur, wenn man sich für seine Interessen selbst einsetzt. Mehr Initiativen, Kiezvertretungen, Aktivistengruppen müssten die Politiker unterstützen. Mandatsträger sind Volksvertreter, aber die Kluft zwischen Bevölkerung und Politiker scheint kaum überwindbar. 
Warum eine Partei? Das Minimum an Reglungen des Parteiengesetzbuches ist die Vorraussetzung, um mitspielen zu können. Es war die Erkenntnis, dass wir als Partei im System arbeiten müssen, um an Informationen zu kommen. Die meisten Piraten wollten nicht Politiker werden. Wir betrachteten es damals als notwendiges Übel Parteimitglieder zu werden, um etwas zu verändern. Viele sind ungeplant zu gewählten Volksvertretern geworden.Immer wieder werden wir auf einzelne Themen, wie Transparenz und Bürgerbeteiligung reduziert, aber auch diese können so vieles heißen. Ein Teil davon ist die Nachvollziehbarkeit der politischen Entscheidungen für den Bürger. Viele Bürger scheinen nicht mehr zu wissen was sie am Wahltag eigentlich wählen, wofür die einzelnen Stimmen stehen, wie Parlamente aufgebaut sind oder wie die politische Arbeit abläuft. Kaum jemand liest Parteiprogramme solange er nicht Parteimitglied ist. Man vertraut dem Klischee einer Partei und lässt sich von oberflächlicher Berichterstattung über Personalien und private Streitereien beeinflussen. Zuwenig wird die eigentliche Arbeit der Politiker erklärt. Der geringe Anteil der Bevölkerung, der nach zur Wahl geht, versteht die Stimmabgabe häufig als Abgabe der Verantwortung an diese Partei.  


Die Realität ist ernüchternd. Eine Abgabe der Stimme am Wahltag und nachfolgend entscheidet die Regierungskoalition, Zählgemeinschaft oder stärkste Fraktion für fünf Jahre  in fast allen Themen. Der Koalitionsvertrag ergibt einen Fahrplan, bei dem Wahlversprechen häufig auf der Strecke bleiben. Parlamente wirken immer mehr wie eine Pressekonferenz, wo in den Reden, die durch die Mehrheitsverhältnisse in der Wahlentscheidung feststehenden Entscheidungen nochmal angepriesen oder kritisiert werden. Häufig werden Entscheidungen durch Verweis auf die höhere Ebene, die eigene Partei auf Landes- und Bundesebene gerechtfertigt. Nicht die Interessen der Bürger, sondern die Vorgaben zu Einsparungen werden von oben nach unten vertreten. Im Parlament rückt die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen oder die Begründung in den Hintergrund, da es mehr um die Profilierung als Partei und die Mehrheitsverhältnisse im Parlament geht, als um die Diskussion über die Inhalte der Entscheidung. Beim parteiübergreifenden Politcamp schien es die Meinung der Mitglieder anderer Parteien zu sein, dass es schon einen Sinn hat, wie sich unsere Demokratie über lange Zeit entwickelt hat und daher die Art, wie gearbeitet wird seine Berechtigung hat. Das Hinterfragen der politischen Prozesse wird schnell als Feindlichkeit gegenüber der Demokratie hingestellt. Nur ist es diesen Politikern garnicht aufgefallen, dass immer mehr Bürger diese Demokratie garnicht mehr zu schätzen wissen, da Bürgerrechte und Sozialstaat immer mehr verschwinden, während mehr Nachweise und Kontrollen dem Bürger abverlangt werden. 


Wir wollten mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung durch die Bevölkerung, indem diese über die Entscheidungen, die sie betrifft besser informiert wird. Eine fließende Demokratie ist eines unserer Prinzipien. Ein Kern der Idee ist die Öffnung des politischen Entscheidungsfindungsdiskurses für möglichst viele Menschen. Gerade dieser Diskurs ist die Voraussetzung für legitime Entscheidungen. Entscheidungen werden jedoch in den Parlamenten über Themengebiete hinweg meistens vom Wahlgewinner getroffen, auch wenn die Kompetenz in einem Bereich mehr bei anderen Parteien oder externen Experten liegt. Eine Diskussion über Hintergründe wird unwichtig und ist zeitlich auch garnicht mehr machbar. Schnelle Entscheidungen werden uninformiert getroffen. Teilweise wirkt es nur wie ein Fraktionszwang, aber in Wirklichkeit ist nur ein Bruchteil der Fraktion überhaupt dazu in der Lage den Sachverhalt, über den gerade abgestimmt wird, nachzuvollziehen. Von der Ebene der Kommunalpolitik, über Landes- auf Bundesebene werden es höhere Stapel an Aktenordnern, die die eigenen Ausschüsse betreffen. Die Piraten wollten es Experten unter den Bürgern erleichtern in ihren Themenbereich Entscheidungen nachvollziehen zu können. Wissen ist Macht in den Parlamenten und diese wird parteiübergreifend kaum geteilt. Die Gewinnerfraktionen haben eine größere personelle und finanzielle Ausstattung und die Recherche der Hintergründe nimmt einen Großteil der Zeit ein. Wer länger dabei ist und mehr Mittel hat ist hierbei klar im Vorteil. Die Auffindbarkeit von Informationen über Hintergründe und alte Anträge wird durch fehlende Aktenordner und Durchsuchbarkeit der Drucksachenarchive erschwert. Nur ein Bruchteil der möglichen Themen und Probleme wird überhaupt angesprochen. Auf dem Weg, die Bürger besser in sie betreffende Themen zu informieren, stellt man fest, dass parteiübergreifend teilweise die Presse besser informiert wird als die gewählten Volksvertreter. 


Fraktionen bilden sich aus den Parteimitgliedern, die gemeinsam auf einer Liste ins Parlament gewählt wurden. Es müssten in den Berliner Bezirken nicht einmal Parteien sein, die sich hier wählen lassen, sondern auch Initiativen gegen die Wasserprivatisierung oder die Bebauung des Spreeufers könnten sich zur Wahl stellen. Kandidaten einer Liste sind aufgrund ähnlicher Grundwerte oder Ziele ihrer Partei angetreten, dennoch wirkt es auf mich seltsam, dass sich Fraktionen nach außen stets geschlossen präsentieren sollen, obwohl ja jeder alleine nach seiner Meinung ohne Fraktionszwang abstimmen soll. Was erst bei genauerem Hinsehen auffällt, ist das fast jeder Fraktionär alleine getrennt von den Fraktionskollegen in seinen Ausschüssen sitzt. Jeder bearbeitet seinen Themenbereich und hat kaum Zeit sich mit anderen Ausschüssen auseinanderzusetzen. Selbst die eigenen Ausschüsse oder nur einen davon könnte jedes Mitglied in Vollzeit bearbeiten und dennoch nur einen Bruchteil der anstehenden Probleme bearbeiten. Leider zeigen nur sehr selten Bürger Interesse an der Zusammenarbeit und das obwohl eine Aufarbeitung der Informationen durch Experten stets eine Hilfe wäre. Für Arbeitsgruppen ist es daher wichtiger überparteilich mit den Kollegen aus dem Ausschuss oder überbezirklich mit anderen Piraten oder Experten aus dem selben Themenbereich zusammenzuarbeiten. Die Fraktion dient dazu andere Fraktionsmitglieder über seine Ausschüsse zu informieren. Als Fraktion teilt man sich Gelder und Räumlichkeiten und informiert die Mitglieder seiner Fraktion vor der großen Abstimmung im Parlament über die anstehenden Anträge aus den eigenen Ausschüssen. Wir haben schnell gemerkt, dass dieses häufig nur unzureichend passiert. Es ist einfacher dem Ausschussmitglied blind ohne Begründung zu vertrauen. Bezirks- und parteiübergreifend fällt immer wieder auf, dass schon aus Zeitmangel teilweise uninformiert einfach wie ein anderes Parteimitglied abgestimmt wird. 


Die Piraten haben die Hoffnung etwas zu verändern, die Parteien und ihre Arbeitsweise zu verbessern - und eigentlich wollten wir nicht so sehr "Politiker" werden, sondern uns selbst und unsere Bürgerrechte wieder mehr vertreten sehen. Leider gibt es eine ständige Gefahr, die uns begleitet. Wir passen uns an, wir gewöhnen uns an parlamentarische Abläufe und Geflogenheiten und hinterfragen nicht mehr. Wir verlieren den Blick des Bürgers, der sich von außen das politische System ansieht und sich wundert.Irgendwann hat man sich an die Abläufe gewöhnt, nimmt die Arbeitsweise als gegeben hin und bemerkt garnicht mehr, dass ein Gast zwischendurch in der Sitzung nach dem Inhalt fragt, wenn eine weitere Drucksache ohne Beschreibung, Begründung oder Diskussion von der Fraktion nur nach Ausschussempfehlung abgelehnt wird. 


1 Kommentar:

  1. Der Text spricht mir zu weiten Teilen aus dem Herzen. Er ist leider etwas lang, aber ich wüsste auch nicht, was man weglassen könnte. Eher könnte (müsste?) man noch mehr schreiben.

    Hut ab, JeZ, bin echt beeindruckt und werde künftig mehr von dir lesen.

    LG Emilio

    AntwortenLöschen